Dissonanz fürchtet Harmonie

Kognitive Dissonanz zündet Neugier. Wir sehnen uns nach Belohnung, nicht nach Harmonie.

curiopia - Das Ideenlabor

Julia & Stefan

Warum ist kognitive Dissonanz ein Geschenk für dein Marketing?
Wieso verschwinden deine Kunden, wenn du Ihnen zu viel Harmonie bietest?

Suche im Internet nach „Cognitive Dissonance + Conversion Optimization“ und die meisten Treffer raten dir, Unsicherheiten bereits im Vorfeld abzubauen. Kognitive Leichtigkeit ist der Schlüssel zur Conversion. Mach es deinem Nutzer einfach und er bucht. Beeinflusse seinen Gefühlszustand und er behält dich positiv in Erinnerung.
Doch ist das so? Wenn alles so harmonisch ist, wo weckst du noch Neugier? Wo forscht dein Kunde nach einer reizvollen Kaufentscheidung? Wie erzeugst du Aufmerksamkeit für ungeplante Zusatzverkäufe? Zuviel Harmonie kann also auch schnell zum Conversionkiller werden.

In den kommenden Zeilen nehme ich dich mit auf eine Reise zum menschlichen Drang nach Harmonie und Zerstörung. Dieser Drang ist dein Schlüssel, um Menschen neugierig zu machen. Diese Reise erklärt dir, warum du es deinen Nutzern im Marketing nicht zu einfach machen solltest.

Aus Harmonie wird Langeweile

Stell dir zwei Menschen vor. Claudia und Jenny. Sie sitzen beim Latte Macchiatto in der Berliner Abendsonne und unterhalten sich – über Männer. Was sonst. Claudia ist Single. Seit vier Wochen trifft sie Jens. Jens ist liebevoll, aufmerksam und hört Claudia stundenlang zu. Doch Claudia ist skeptisch. „Jens ist irgendwie zu nett. So sehr ich ihn mag. Es fehlt etwas. Er macht mich nicht mehr neugierig“. Jens wird keine Chance haben. Mit zu viel Harmonie schreckt er Claudia ab. Jenny schlürft ihren Latte Macchiato und grinst. Denn in Gedanken ist sie bei Marco. Sie weiß nicht so recht, was er sich heute Abend wieder verrücktes ausgedacht hat. Doch es wird bestimmt cool.

Wenn Dir diese Geschichte nun zu klischeebeladen vorkommt, hast du recht. Doch unser ganzes Leben besteht (leider oftmals) aus diesen Klischees. Und falls du dich jetzt aufregen möchtest, dass Frauen gar nicht so sind – das stimmt. Dann tausche die Namen in dir bekannte Männernamen. Es wird genauso funktionieren.

Was hat Kognitive Dissonanz mit Zerstörung zu tun?

Der Mensch ist ambivalent.
Wir wünschen uns Harmonie.
Doch von Zeit zu Zeit zerstören wir bewusst die Harmonie.
Nur um uns anschließend damit zu belohnen, sie wieder herzustellen.
Sonst wäre es ja langweilig.
Diese harmoniegetriebene Zerstörungswut ist unser Aufputschmittel im Alltag.
Nur wenn unsere Zerstörung zu groß ist, suchen wir das Weite oder ändern mal schnell unsere Einstellung.

Kognitive Dissonanz fördert unsere Abwechslung

Ist etwas zu vorhersehbar verlieren wir das Interesse. Unentdeckte Pfade wecken unsere Neugier.

Kognitive Konflikte sind zugleich der Antrieb und das Hindernis für unser Wohlbefinden. Diese Gefühlszustände sind nicht nur blanke Theorie in der Psychologie. Du kannst sie nutzen, um den Nutzer im Online-Marketing zu einer Entscheidung zu bringen. Eine Entscheidung, die er vorher nicht geahnt hat.

Aber der Reihe nach mit den Kognitionen.

Was ist Kognitive Dissonanz und die Konsistenztheorie?

Konsistenztheorien beruhen auf dem Gedanken, dass wir Menschen uns nach Harmonie, Verträglichkeit und Stimmigkeit sehnen. Alle unsere Kognitionen wie Erinnerungen, Einstellungen und Urteile streben nach einem harmonischen Gefühlszustand.

Wir ertragen nur sehr schwer Ungewissheit. Erscheint uns eine Situation unüberschaubar, suchen wir Klarheit und Sicherheit.

Im Wunsch nach Harmonie richten wir unser Verhalten aus. Wenn wir also einmal ein Urteil gebildet haben, dass für uns stimmig ist, ändern wir dieses Urteil nicht ohne triftigen Grund.

Hieraus lassen sich nach dem Sozialpsychologen Leon Festinger kognitive Dissonanzen ableiten. Kommt es zu einem Ungleichgewicht (Dissonanz) zwischen unserer Erwartung und einem Verhalten, streben wir danach, dieses Ungleichgewicht wieder in Harmonie zu bringen. Je größer diese Unsicherheit, desto stärker ist der Druck in unserem Kopf. Hat die Kognition, die hier ins Ungleichgewicht geraten ist, sogar ein extrem hohe Bedeutung für uns, verstärkt sich der Druck nochmal.

Nun gibt es drei Lösungswege nach Festinger:

  • Das Ungleichgewicht bringen wir wieder in Harmonie.
  • Wir geben dem Druck nach und ändern unsere Einstellung.
  • Wir ignorieren und verdrängen das Ungleichgewicht.

Alle drei Lösungswege haben gemeinsam, dass wir die kognitive Dissonanz reduzieren und wieder unseren harmonischen Gleichklang finden. Außer Acht lassen wir die Objektivität. Unser handeln beruht einzig auf unserem subjektiven Wohlgefühl.

Auf der anderen Seite wenden wir uns instinktiv Informationen zu, die unsere Einstellung untermauern. Aus jeder Nachricht und Botschaft ziehen wir unterbewusst den Inhalt heraus, der am besten unserer Meinung entspricht. 

Wir reden uns Entscheidungen schön

Neben der Dissonanz-Theorie Festingers kommt hier das „Choice Supportive Bias“ ins Spiel. Entscheidungen, die unserer Einstellungen entsprechen, behalten wir immer in besserer Erinnerung. Wir rechtfertigen unterbewusst unsere Entscheidung, in dem wir sie betont positiv in Gedanken behalten. Alle negativen und störenden Aspekte schieben wir nach hinten und verdrängen sie.

Kognitive Dissonanzen verdrängen

„Sein nicht die Nette von nebenan.
Sei die Coole der Schule.“

Die „Selective-Exposure“-Hypothese geht davon aus, dass wir nicht nur Inhalte selektiv wahrnehmen, sondern auch die Gesprächspartner danach auswählen. Je stärker die kognitive Dissonanz, die wir erleben, desto ausgeprägter der Hang nach selektiver Auswahl unterstützender Gesprächspartner.

In der Conversion Optimierung ist es ein viel genanntes Ziel, diese unangenehmen Situationen möglichst auszuräumen. Je mehr Gründe wir dem Nutzer geben, ein Produkt positiv in Erinnerung zu behalten, desto besser. Im Warenkorb-Prozess einer Bestellung gilt es, möglichst viele positive und entscheidungsfördernde Signale einzusetzen. Die Bestellung wird vom Nutzer nicht hinterfragt und als positiv bewertet.

Alle eitel Sonnenschein? Doch Vorsicht.

Was ist die Komplexitätstheorie?

Die Komplexitätstheorie von Christine McGuire durchbricht diese Harmonie. Sie geht davon aus, dass wir Menschen sehr gezielt inkonsistente Informationen suchen.

„It has a stimulus hunger, an exploratory drive, a need curisosity. And it takes pleasure in the unexpected, at least in intermediate levels of unpredictability. So it wants to experience everything: it shows alternation behavior; it finds novelty rewarding.“

aus „The Current Status of Cognitive Consistence Theories“ von William J. Guire, 1967

Erscheint uns etwas zu harmonisch und stimmig, droht Langeweile. Wir wollen jedoch ein bestimmtes Maß an Aktivierung und Erregung aufrecht erhalten. Auf der Suche nach Abwechslung „stürmen“ wir in unstimmige Situationen. Allerdings nur so stark, dass wir uns nicht überfordert fühlen. Inkonsistenzen mit zu hoher oder zu niedriger Überforderung mustern wir direkt aus. Es ist die sprichwörtliche Suche nach dem „Kick“, bei der wir unsere eigene Komfortzone nicht restlos verlassen. Überschreiten wir unsere Komfortzone wandelt sich der „Kick“ in Überforderung. Wir reduzieren unsere Aktivität und streben nach Stimmigkeit. Unser Gefühlszustand beruhigt sich wieder.

Die Zerstörung geschieht also aus purer Lust an der Belohnung. Sobald die Harmonie wiederhergestellt ist, lehnen wir uns entspannt zurück und geniessen diese innere Anerkennung. Unsere Zerstörungswut wird angetrieben von der Neugier auf eine neue Erfahrung.

Disharmonie fördert Neugier

Aus empirischen Untersuchungen in der Psychologie  (Löwenstein, 1994: 88ff; Christmann, 2004: 78) lassen sich drei Verhaltensarten ableiten:

  • Informationen, die in der Lage sind unsere wahrgenommene Informationslücke (Dissonanz) zu schließen, erzeugen eine intensive Neugier.
  • Informationen, bei denen wir wissen, dass sie unsere Informationslücke sofort schließen, bevorzugen wir.
  • Unsere Neugier steigt, je mehr wir über das Thema bereits wissen – vorausgesetzt die eigene subjektive Wichtigkeit liegt nicht woanders.
Neugier als Belohnung für kognitive Dissonanzen

Einerseits verfallen wir kognitiv in Disharmonie. Andererseits verspüren wir eine große Erregung bei unklaren Situationen.

Je überraschender eine Information,
je unklarer die Auflösung und
je stärker der Widerspruch,
desto größer ist unsere Erregung.

Kognitive Dissonanz als Neugier-Booster

Wir haben hier gefühlt einen Gegensatz. Die Konsistenztheorien, speziell die von Festinger, gehen von einem fundamentalen Bedürfnis des Menschen nach Stabilität und Vertrautheit aus. Die Komplexitätstheorie sieht unsere stete Lust nach Abenteuer und Risiko.

Doch dieser Gegensatz ist nur scheinbar. Es ist vielmehr eine gelungene Ergänzung. Den der Ruf des Abenteuers kann nur aus einem harmonischen Umfeld erfolgen. Erst wenn wir uns geordnet und geerdet fühlen, erklären wir uns zu einem neuen Risiko bereits. Andererseits motiviert uns das Abenteuer gerade deswegen, um wieder Harmonie herzustellen.

Zusammenfassend verhalten wir uns ziemlich ambivalent. Schwelgen wir in zu großer Harmonie sackt unsere Erregung haben. Wir sehen uns nach Aktivierung und fördern die kurzfristige Zerstörung der Harmonie. Angetrieben werden wir von der Aussicht auf die Belohnung: Die Herstellung der Harmonie.

Für dein Marketing ist dieses Wissen ein großes Geschenk. Es erklärt die menschliche Motivation nach Neugier und Wissbegierde.

Der gezielte Einsatz von diesen kognitiven Konflikten weckt Neugier auf ein Thema. Die Dissonanz ist der bewusste Stimuli, um die Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken.

Was heißt das nun für Dein Marketing?

Gestalte deine Inhalte nicht zu erwartungskonform. Vermeidest du jegliche kognitive Dissonanz, entwickelt sich Langeweile. Dein Nutzer sieht keine Anreize und wird sich abwenden.

Du hast zwei Möglichkeiten.

  • Setze kognitive Dissonanz als bewusstes Mittel ein, um Neugier zu erzeugen. Je geschickter du es machst, desto höhere die Bindung.
  • Lade deine Nutzer ein, um Disharmonie selbst zu erzeugen. Mach dies nur dann, wenn es für dein Marketing nützlich ist. Belohne deine Nutzer für das Auflösen ihrer eigenen kognitiven Dissonanz. Diese Kontroversen sind dein „Joker“ im Marketing. Setze sie nur dann ein, wenn es perfekt passt.

Kognitive Dissonanzen sind dein Joker
für gezielte Aufmerksamkeit.

In deinem erfolgreichen Marketing gelingt dir der Spagat. Unnötige und hinderliche Kognitionen räumst du aus. Dein Nutzer wird nicht abgelenkt und rechtfertigt seine Handlungen mit positiven Argumenten. In entscheidenden Momenten erzeugst du jedoch unstimmige Kognitionen. Sie lenken die Aufmerksamkeit des Nutzers auf besondere Produkte, Erlebnisse und Inhalte.

Was ist bei kognitiver Dissonanz zu beachten?

Wir haben einen kontinuierlichen Hunger nach Reizen. Setze deine kognitive Dissonanz als gezielten Widerspruch ein. Diese Verunsicherung aktiviert den Nutzer und der Organismus wird angetrieben. Dränge den Nutzer nicht, sondern lass ihn staunen. Gib ihm Raum und Zeit, sich mit dem Konflikt zu beschäftigen.

Den Konflikt, den du erzeugst oder forcierst, darf deine Nutzer weder überfordern noch unterfordern. Dein Nutzer sieht die Dissonanz, bewertet sie als Herausforderung und klassifiziert sie als machbar. Mit der Aussicht auf den Erfolg, beschäftigt er sich mit dem Ungleichgewicht. Die innere Motivation ist die Herstellung des Gleichgewichts. Dies ist auch zugleich der Erfolgskick für den Nutzers. Die Zufriedenheit stellt sich ein, sobald er sein harmonisches Ganzes wieder sieht.

Kognitive Dissonanzen anregen

Überforderst du den Nutzer, bekommt er Angst.
Unterforderst du ihn, ist er gelangweilt.

Achte auf Kontinuität. Je gezielter und kontinuierlicher du eine Dissonanz einsetzt, um so „abhängiger“ machst du die Nutzer von deiner Kommunikation. Dank des Zwists und der deren Auflösung kannst du kontinuierlich die Einstellung und Meinung des Nutzers beeinflussen. Nutze diese Technik also mit der nötigen Sorgfalt und Wertschätzung vor deinen Kunden.

Die Voraussetzung für jede Dissonanz ist ein tiefes Verständnis für deine Nutzer. Ohne das Wissen über ihre Vorlieben kann dein Konflikt falsch verstanden werden. Bevor deine kognitive Dissonanz zündet, verführe den Nutzer dazu möglichst viel über seine Vorlieben preis zu geben. Erst dann kannst du einen passenden Konflikt erzeugen.

Wie setze ich kognitive Dissonanzen ein?

Zünde Disharmonien als Stilmittel auf deiner Website, im Online-Marketing und für virale Kampagnen. Die Dissonanz ist Teil deiner Texte, Bilder oder Videos. Sie kann auch aus Elementen oder Modulen bestehen, die speziell hierfür gestaltet werden.
Dein Dissonanz-Werkzeugkasten ist gefüllt mit unterschiedlichen Stilmitteln:

  1. Schüre Zweifel.

    Schaffe einen Konflikt zwischen einer festen Überzeugung und
    neuen Erkenntnissen

  2. Spiele mit Mehrdeutigkeit.

    Ein Element oder eine Information lässt verschiedene Deutungen zu.

  3. Gestalte Überraschungen.

    Setze das Gegenteil zu den Erwartungen und Kenntnissen deiner Nutzer.

  4. Führe ins Ungewisse.

    Der nächste Schritt des Nutzers kann mehrere Möglichkeiten bereit halten.

  5. Errichte Inkongruenzen.

    Nimm zwei Überzeugungen deiner Nutzer und setzen sie so in Beziehung zueinander, dass sie sich ausschließen.

  6. Sorge für Irrelevanz.

    Platziere Informationen, die nicht zum Kontext und zur Einheit gehören.

  7. Sorge für Widerspruch.

    Nimm zwei Behauptungen und lass sie sich gegenseitig ausschließen.

Deine kognitiven Kontroversen werden um so stärker, je mehr Informationen miteinander konkurrieren. Nutze die Wissenslücke deiner Nutzer. Zeige ihnen ihre Widersprüche auf. Hilf ihnen beim schönreden ihrer Kaufentscheidung. Bedien dich aus dem „Wörterbuch der unangenehmen Zielerreichung“.  Doch bleib dabei authentisch und behalte ein Augenzwinkern.

Kognitive Dissonanzen zünden Neugier

Kognitive Dissonanzen sind dein Joker
für gezielte Aufmerksamkeit.

Kurzum:

  • Sei nicht zu nett zu deinen Kunden.
  • Ersticke dein Marketing nicht in Harmonie.
  • Locke die Neugier Deiner Kunden mit gezielter kognitiver Dissonanz.
  • Lass Deine Kunden selber kognitive Dissonanzen erzeugen und belohne sie dafür.

Happy Disharmoning 🙂

Bilder:
shutterstock, Everett Collection
Eigene Illustration, Stefan Niemeyer

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